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Großer Fisch, mutiger Fisch?

Eine IGB-Studie räumt mit dem Pace-of-Life-Syndrom auf
Fische sind vielseitige und spannende Forschungsobjekte, denn die schnell wachsenden Tiere eignen sich sehr gut sowohl zur Erforschung ökologischer Themen als auch für die Verhaltens- und Schwarmforschung. Thomas Mehner, stellvertretender Direktor am IGB, berichtet in diesem Interview von einem besonderen Dissertationsprojekt, in dem Fische die Hauptrolle spielen: Sein Doktorand Giovanni Polverino konnte zeigen, dass das in der Biologie zuletzt intensiv diskutierte Pace-of-Life-Syndrom nicht unter allen Bedingungen zu finden ist. Lesen Sie hier, was genau der mittlerweile in Australien tätige Forscher herausgefunden hat – und warum Thomas Mehner selbst erst nicht glauben konnte, dass die Ergebnisse korrekt sind.

Ein mutiger Fisch? Man sieht es ihnen nicht an der Nasenspitze an, aber Fische können unterschiedlich viel Aktivität oder Aggression zeigen und unterschiedlich auf neue Umgebungen oder Risikosituationen reagieren. So hat die Persönlichkeit eines Fisches ökologische und evolutionäre Folgen. | Foto: Solvin Zankl

Herr Mehner, das Pace-of-Life-Syndrom wird in der Wissenschaft heiß diskutiert, ist darüber hinaus aber eher unbekannt. Was genau besagt es, und warum haben Sie beschlossen, es zum Gegenstand der IGB-Forschung zu machen?

Thomas Mehner: Das Spannende am Pace-of-Life-Syndrom ist, dass grundlegende Theorien aus der Ökologie, der Physiologie und der Verhaltensforschung in ein Konzept integriert wurden. Es besagt, dass Stoffwechselaktivität, Lebensgeschichte und Verhaltensmuster eines Individuums voneinander abhängen, sich gegenseitig bedingen. Aktive und risikofreudige Individuen benötigen viel Energie, und diese Kopplung von Physiologie und Verhalten bedingt, dass aktive Individuen sich häufig früh fortpflanzen und ein kurzes Leben haben. Bedächtige und risikoarme Individuen benötigen weniger Energie und sollten sich daher spät fortpflanzen und länger leben. Wir wollten dieses Konzept auf den Prüfstand stellen und fragten uns: Sind diese systematischen Unterschiede zwischen Individuen unabhängig von der Umwelt, in der sie leben? Beeinflussen bestimmte Umweltvariablen nur einzelne Teile des Pace-of-Life-Syndroms, oder das gesamte Syndrom?

Was genau haben Sie untersucht?

Wir haben zwei Populationen einer Fischart miteinander verglichen, die sich unter ganz unterschiedlichen Bedingungen entwickelt haben: Die eine Moskitofisch-Population lebte in einem kleinen See, der regelmäßig abgefischt wurde, wobei jeweils etwa 80 Prozent der erwachsenen Tiere entnommen wurden, was einem enorm hohen Räuberdruck entspricht. Die zweite Moskitofisch-Population lebte ungestört in einem Steinbruch. Wir hielten jeweils 40 Individuen der ersten Nachkommensgeneration unter identischen Bedingungen und verfolgten sie für die Dauer von sechs Monaten, also über alle Entwicklungsstadien.

Und was haben Sie herausgefunden?

Spannend war, dass die Fische im frühen Jugendstadium keinem bestimmten Verhaltenstyp zuzuordnen sind. Ihre Verhaltensmuster wiederholen sich nicht von Tag zu Tag. Werden sie älter, ändert sich dies, das Verhaltensspektrum wird enger, und es bilden sich gut unterscheidbare Typen heraus. Nach etwa drei Monaten hatten die Moskitofische ihre „Persönlichkeit“ gefunden, während die Variabilität im eigenen Verhalten abnahm. Dazu unterschieden sich die Populationen wie erwartet in der Lebensgeschichte. Die Population aus dem Steinbruch wuchs langsam und pflanzte sich spät fort, die befischte Population aus dem kleinen See war dagegen schnellwüchsig und früh fortpflanzungsreif.

Und bestätigte sich die Pace-of-Life-Hypothese im Vergleich der Populationen?

Nein. Die Streuung der Verhaltenstypen im Populationsvergleich hätte sich deutlich unterscheiden müssen, denn die Umweltbedingungen wichen stark voneinander ab. Augenfällig ist das Beispiel Metabolismus: Laut Hypothese sind Tiere nur dann mutig und aktiv, wenn sie viel fressen und im Gegenzug wenig Energie in die Reproduktion stecken, denn ein aktives Leben ist sehr energieintensiv. Für die langsam wachsenden Fische, die Nachkommen des Steinbruch-Sees, konnten wir dies auch bestätigen. Die schnell wachsenden Fische, deren Vorfahren in dem stark befischten Teich gelebt hatten, passten aber nicht in das Schema: Sie waren groß und hatten einen hohen Energieumsatz, verhielten sich aber trotzdem nicht mutig.

Wie erklären Sie sich das?

Wir haben eine Vermutung formuliert. Sobald es einen starken Selektionsdruck auf eine Achse des Pace-of-Life-Syndroms gibt, bricht es auf, und die vorhergesagten Korrelationen brechen weg. Woran das liegt, wissen wir nicht; der Räuberdruck dürfte eine wichtige Rolle spielen. Sicher ist nur: Das Syndrom gilt nicht unter allen Selektionsbedingungen.

Sie und das Projektteam um Giovanni Polverino wollten ursprünglich eine weitere Bestätigung für das Pace-of-Life-Syndrom finden. Das gelang nicht, im Gegenteil. Welche Erkenntnis lässt sich daraus ziehen?

Auch ein gefeiertes Konstrukt muss kritisch hinterfragt werden. Manchmal wollen Biologen wie Physiker sein und einfache Regeln identifizieren, die überall gelten. Deswegen hat die Hypothese in der Community unheimlich Furore gemacht: Es war faszinierend, eine themenübergreifende Theorie für Individualität zu formulieren. Auch ich dachte, wir finden das, was wir erwarten. Ich war mir sicher, dass sich beide Populationen unterscheiden, aber die Merkmale der Individuen sich in Übereinstimmung mit dem Pace-of-Life-Syndrom entwickeln würden. Dass dies für die eine Population nicht eintritt, hätte ich nie gedacht.

Wann wurde Ihnen klar, was passiert war?

Als Giovanni mir die Grafik zeigte, in der die Wechselbeziehungen zwischen Verhalten, Physiologie und Lebensgeschichte schematisch dargestellt waren. Bei den langsam wachsenden Fischen waren sie da, bei den schnell wachsenden nicht. Ich dachte, da muss ein Fehler vorliegen, da wurde etwas falsch berechnet. Doch alles stimmte, und wir sind froh, den Nachweis erbracht zu haben, dass das Pace-of-Life-Syndrom nicht unter allen Umständen gilt. Denn nun öffnet sich eine weitere Tür, wir können fragen: Warum denn nicht? Dazu wird sicher weiter geforscht werden.

Das Gespräch führte Wiebke Peters.

Lesen Sie die Studie Open Access in der Fachzeitschrift Scientific Reports >

Giovanni Polverino, Francesca Santostefano, Carlos Díaz-Gil, Thomas Mehner (2018). Ecological conditions drive pace-of-life syndromes by shaping relationships between life history, physiology and behaviour in two populations of Eastern mosquitofish. Scientific Reports, 8, 14673. doi:10.1038/s41598-018-33047-0

Ansprechpersonen

Thomas Mehner

Vize-Direktor
Forschungsgruppe
Nahrungsnetze und Fischgemeinschaften

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