
Angriff eines Kiskadees auf einen Fischschwarm in einer Schwefelquelle in Mexiko. | Foto: Korbinian Pacher
Für ihre Studie untersuchten die Verhaltensbiologen Korbinian Pacher vom IGB und Prof. Dr. Jens Krause vom Albrecht Daniel Thaer - Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften sowie weitere Kollegen von der HU Schwärme von Schwefelfischen (Poecilia sulphuraria), die in den heißen, schwefelhaltigen Quellen des El Azufre-Flusses im mexikanischen Bundesstaat Tabasco leben. Dort herrschen extreme Bedingungen: Sauerstoffmangel, hohe Temperaturen und Raubvögel wie Eisvögel oder Kiskadees, die die Fische regelmäßig jagen. Die kollektive Abwehrstrategie der Schwefelfische ist besonders interessant: Sobald ein Schwarm eine potenzielle Gefahr wahrnimmt, tauchen die Fische synchron ab und erzeugen dabei nach außen sichtbare Wellenmuster auf der Wasseroberfläche – wie La-Ola-Wellen. Handelt es sich tatsächlich um einen Angriff, folgt eine Serie weiterer „Wellen-Tauchgänge“. Ist der Reiz harmlos, bleibt es bei einem einmaligen Abtauchen. Für die Forschenden war dieses Verhalten ein Glücksfall – denn es erlaubt erstmals einen präzisen Blick darauf, wie Tiergruppen Entscheidungen über potenzielle Gefahren treffen.
Gefahr erkennen – im Team
Bei über zweihundert dokumentierten Ereignissen verglichen die Forschenden nun das Verhalten der Schwärme bei echten Angriffen und bei harmlosen Vogelüberflügen. Ihr Fokus lag dabei auf dem Kiskadee, einem besonders schwer zu erkennenden Räuber: Statt mit lautem Eintauchen attackiert er im Flug, wobei nur der Schnabel kurz das Wasser berührt, optisch also kaum von harmlosen Bewegungen anderer Vögel zu unterscheiden ist.
Das Ergebnis: Größere Schwärme konnten deutlich besser zwischen realer Gefahr und Fehlalarm unterscheiden. Während die Reaktionen auf echte Bedrohungen mit der Gruppengröße zunahmen, blieben die Reaktionen auf harmlose Reize konstant. Die Schwärme wurden also nicht sensibler, sondern präziser. Eine echte Qualitätssteigerung in der Entscheidungsfindung.
„Wir wissen seit Langem, dass Tiergruppen beeindruckende kollektive Entscheidungen treffen können“, sagt Studienleiter Korbinian Pacher, Doktorand am IGB. „Aber theoretische Modelle und Laborexperimente bringen uns bei der Erforschung dieses Phänomens nur begrenzt weiter. Uns hat interessiert, ob kollektive Intelligenz auch dort funktioniert, wo sie wirklich zählt, nämlich unter chaotischen, lauten, echten Umweltbedingungen.“
„Kollektives Entscheidungsverhalten unter Bedingungen zu untersuchen, bei denen eine falsche Entscheidung echte Konsequenzen hat, das ist im Labor kaum möglich, genau deshalb war es so wichtig, mit dieser Frage zurück ins Feld zu gehen“, ergänzt Jens Krause, ebenfalls Autor der Studie und Professor für die Biologie und Ökologie Fische an der HU sowie Leiter der Abteilung „Biologie der Fische, Fischerei und Aquakultur“ am IGB.
Nicht nur größer, sondern auch klüger
In der Entscheidungstheorie geht man oft von einem Dilemma aus: Wer schnell reagiert, macht mehr Fehler. Wer zu lange zögert, verpasst die Chance zur Flucht. Doch die Schwefelfisch-Schwärme wurden nicht nur genauer, sie wurden auch schneller. Je größer der Schwarm, desto kürzer die Zeitspanne zwischen dem ersten Abtauchen und der kollektiven Entscheidung zur weiteren Verteidigung. „In den größten Schwärmen waren die Erkennungsraten fast perfekt, nahezu 100 Prozent der Kiskadee-Angriffe wurden korrekt identifiziert“, sagt Korbinian Pacher. „Das wäre für einen Einzelfisch schlicht unmöglich.“
Von Fischschwärmen zu Menschenmengen
Bisherige Modelle erklären Gruppenentscheidungen oft mit sogenannten Quorum-Regeln: Ein Tier reagiert erst, wenn eine bestimmte Zahl an Artgenossen ebenfalls reagiert. Doch bei Schwärmen mit zehntausenden oder gar hunderttausenden Fischen ist es unwahrscheinlich, dass jedes Tier alle anderen beobachtet. Stattdessen vermuten die Forschenden einen selbstorganisierten, komplexeren Mechanismus. „Man kann sich diese Fischschwärme fast wie ein neuronales Netzwerk vorstellen“, so Pacher. „Sie könnten in einem Zustand operieren, den wir ‚Kritikalität‘ nennen – ein Zustand, der in großen Systemen wie dem Gehirn oder auch Menschenmengen die Informationsverarbeitung optimiert.“ Ein besseres Verständnis solcher Gruppenprozesse könnte nicht nur biologische, sondern auch künstliche Systeme inspirieren: von Robotik bis Schwarmintelligenz. Und es hilft, eine der grundlegendsten Fragen der Evolutionsbiologie zu beantworten: Warum leben Tiere überhaupt in Gruppen?
Ein Fenster in die natürliche Intelligenz
Die Studie liefert überzeugende Hinweise darauf, dass Tiergruppen unter realen Bedingungen mehr sind als die Summe ihrer Teile. Indem sie individuelle Informationen schnell und präzise zusammenführen, zeigen Schwärme wie die der Schwefel Mollys, wie kollektive Intelligenz in der Natur funktioniert, und sich in Form eines evolutionären Überlebensvorteil auszahlt. „Für mich ist das Faszinierendste, dass wir hier echte kollektive Kognition in freier Wildbahn beobachten konnten“, sagt Pacher. „Diese Fische lösen gemeinsam ein verdammt schwieriges Problem – und sie machen das besser, als wir es für möglich gehalten hätten.“

Die Schwefelmollys müssen immer nahe der Oberfläche schwimmen, um genug Sauerstoff zu bekommen. | Foto: Korbinian Pacher

Ein Kiskadee an einer Schwefelquelle in Mexiko. | Foto: Korbinian Pacher

Ist der Vogel im Angriffmodus, oder nur im Überflug? Das muss der Fischschwarm schnell einschätzen können. | Foto: Korbinian Pacher