Fokus
Angelina Tittmann

Krankheit kann auch etwas Positives sein

Wie Parasiten helfen, Cyanobakterien einzudämmen
Justyna Wolinska und Ramsy Agha erforschen Organismen, die bislang eher ein Schattendasein in der wissenschaftlichen Welt fristeten: Parasiten. Im Interview erklären die beiden, warum es sich lohnen kann, das Gute im scheinbar Schlechten zu suchen, und wie sich aus künstlich erwärmten Seen Schlüsse auf den globalen Klimawandel ziehen lassen.

Daphnia – eine der wichtigsten Zooplanktonspezies in aquatischen Ökosystemen. | Foto: IGB/David Ausserhofer

Frau Wolinska, Herr Agha, Sie beschäftigen sich in Ihrer Arbeit mit Parasiten, einer ziemlich speziellen Gruppe von Organismen. Was ist für Sie daran spannend?

Ramsy Agha: Wir Biologinnen und Biologen vernachlässigen Parasiten meistens, weil wir sie als Ausnahmefall in der Natur betrachten. Inzwischen wissen wir jedoch, dass sie zahlreich und oft auftreten. Deswegen finde ich es wichtig, mehr Aufmerksamkeit auf diese bislang übersehene Organismengruppe zu richten: Welche Rolle kommt ihnen in Ökosystemen zu? Wir wollen Parasiten aus dem Hintergrund in den Vordergrund holen.

Justyna Wolinska: Ein Grund, warum sie bisher übersehen wurden, liegt darin, dass es schwierig ist, sich mit ihnen zu beschäftigen. Parasiten sind meist sehr klein, und auch wenn sie es nicht sind, können wir sie nicht sehen, denn in der Regel befinden sie sich mitten in einem anderen Organismus. Man muss sich also dem Inneren zuwenden, um zu erkennen, wie verbreitet Parasiten sind. Ein wichtiger Grund, weshalb ich mich für Parasiten zu interessieren begann, war diese negative Einstellung, mit der wir ihnen begegnen: Sie verursachen Krankheiten, also glauben wir, dass Parasiten schlecht sind.

Aber Parasiten sind nicht immer schlecht, richtig? 

JW: Genau. In unserer Gruppe haben wir dann auch herausgefunden, dass Parasiten ganz im Gegenteil eine positive Rolle im Ökosystem spielen dürften. Und das war etwas Unerwartetes, es war wirklich faszinierend!

RA: Es ist eine Art Paradigmenwechsel. Krankheit ist etwas Schlechtes, aber im ökologischen Kontext kann sie auch etwas Positives sein.

Was haben Sie untersucht?

RA: Wir haben uns die Beziehung von Parasiten und Wirt angeschaut, in unserem Fall Pilzparasiten und Cyanobakterien. Dabei haben wir entdeckt, dass dieser Parasit auch einen Effekt auf einen dritten Organismus hat, nämlich auf Daphnien, eine der wichtigsten Zooplanktonspezies in aquatischen Ökosystemen. Unsere Beobachtung war: Daphnien profitieren vom Pilzbefall der Cyanobakterien. Das ist insofern interessant, als diese Art Beute für sie normalerweise schlechte Nahrung ist. Der Parasit wird hier selbst vom Zooplankton als Beute genutzt, und da er wichtige Fettsäuren enthält, verbessert er dessen Nahrung. Das lässt sich daran ablesen, dass die Daphnienpopulationen stark anwachsen.

JW: Der Pilzbefall bewirkt außerdem, dass die Cyanobakterien effizienter von den Daphnien konsumiert werden können. Cyanobakterien bestehen aus langen Filamenten, was sie als Nahrungsquelle ungünstig macht: Die Fäden verstopfen die Filterapparate der Daphnien, mit denen sie im Wasser Nahrung aufnehmen. Durch die parasitäre Infektion werden die Filamente in kleinere Stücke zerteilt, wie wir beobachten konnten, sodass sie besser von den Daphnien aufgenommen werden können.

RA: Ich will das mit einem Beispiel illustrieren: Im Sommer sind die Berliner Seen häufig nicht blau, sondern grün, weil an ihrer Oberfläche massenweise Phytoplankton schwimmt, häufig Cyanobakterien. Warum ist das so? Ein wichtiger Grund dafür ist, dass sie von ihren Fraßfeinden nicht effizient konsumiert werden. Schlechte Nahrung eben. Mit dem Parasiten gewinnt diese Nahrungsquelle an Qualität, und Cyanobakterien werden dadurch besser in Schach gehalten.

Das heißt, gäbe es die Parasiten nicht, wären unsere Seen noch schmutziger im Sommer?

JW: Davon kann man ausgehen. Diese Parasiten sind eine Gruppe sehr primitiver Pilze, die fast überall zu finden sind und sehr virulent sein können, das heißt, sie können Cyanobakterienvorkommen in kurzer Zeit beseitigen. Das hat uns auf den Gedanken gebracht, dass sie einen sehr wichtigen Einfluss auf die Kohlenstoffübertragung in ihrem jeweiligen Ökosystem haben. Da diese Parasiten jegliche Phytoplanktongruppen befallen können und etwa die Hälfte der Kohlenstofffixierung weltweit auf das Konto des Phytoplanktons geht, dürften solche Infektionen einen Einfluss auf den globalen Kohlenstoffzyklus und die Klimaregulierung haben.

Welche Erkenntnis hat Sie am meisten überrascht?

RA: Dass Parasiten auch als Beute dienen! Die Infektion liefert nicht nur Nahrung, sie erleichtert ebenso die Aufnahme einer anderen Beute. Parasiten haben also sehr komplexe Effekte: Sie agieren als ein zusätzlicher Link im Nahrungsnetz, und sie verändern existierende Verbindungen.

JW: Bislang dachte man über aquatische Nahrungsnetze in einer simplen Kaskade: Phytoplankton, Zooplankton und Fische sind über eine Räuber-Beute-Wechselwirkung miteinander verbunden. Aber da ist dieser weit verbreitete Parasit, der eine sehr häufig vorkommende Phytoplanktonart infiziert, die Cyanobakterien, und es stellt sich heraus: Das Nahrungsnetz ist viel komplexer!

Haben Sie eine Idee, was sich aus Ihren Erkenntnissen in Zeiten der globalen Erwärmung ergibt?

RA: Darüber können wir noch nicht viel sagen, wollen uns mit dieser Frage aber auch beschäftigen. Wir wissen, dass Cyanobakterien infolge des Klimawandels häufiger auftreten werden. Im Labor haben wir uns angeschaut, was bei unterschiedlichen Temperaturen passiert, und konnten feststellen, dass bei höheren Temperaturen auch die Infektionen zunehmen. Aber so funktioniert es ja nicht in der Natur: Dort steigen die Temperaturen langsam und über längere Zeiträume, und Parasiten und Wirtsorganismen haben Zeit, sich anzupassen. Solche Bedingungen wollen wir im Labor simulieren und mit Ansätzen der experimentellen Evolution untersuchen: Das heißt wir erlauben den Organismen, sich an die neuen Bedingungen über einen längeren Zeitraum anzupassen, und vergleichen Krankheitsdynamiken. Diese Experimente sind besonders spannend, da wir Evolution in Echtzeit beobachten können! Ein Jahr haben wir dafür eingeplant.

Mit welcher Fragestellung werden Sie sich dabei beschäftigen?

JW: Wir wollen grundlegende Prozesse besser verstehen, an denen parasitäre Organismen beteiligt sind, und werden auch weitere Parasiten untersuchen, die Zooplankton beeinflussen. Außerdem planen wir ausgefeiltere Experimente, bei denen wir versuchen, in die Zukunft zu schauen. In Polen gibt es eine kleine Zahl von Seen, in die seit 60 Jahren Kühlwasser aus Kohlekraftwerken eingeleitet wird. In diesen Gewässern ist die Temperatur deswegen um insgesamt 4 Grad Celsius angestiegen. Sie sind also perfekte Modelle für das, was wir in den kommenden Jahrzehnten erwarten. In einem großangelegten Projekt nehmen wir Proben von Phytoplankton und Zooplankton aus diesen Seen und vergleichen sie mit anderen Seen in der Umgebung, in die kein wärmeres Wasser eingeleitet wurde, die also als Kontrollgewässer dienen können. Wir vergleichen insbesondere, wie sich parasitäre Epidemien in den erwärmten Seen im Vergleich zu den Kontrollseen ausbreiten.

Frau Wolinska, Sie engagieren sich über Ihre Forschung hinaus am IGB auch in der Inclusion and Diversity Group, die 2019 gegründet wurde. Warum ist Ihnen dieses Thema wichtig?

Ich denke, ein Institut, das stärker auf Inklusion und Diversität achtet, bietet eine freundliche und sichere Umgebung. Diversität meint Unterschiede, die uns alle ausmachen, etwa geografische oder ethnische Herkunft, Geschlecht, Alter, Fähigkeiten, Religion, und es ist wichtig, diese anzuerkennen. Jede*r Einzelne bringt einzigartige Perspektiven ein, und dieser Mix von Perspektiven ermöglicht klügere Entscheidungen, bessere Ideen und Ergebnisse, mehr Innovation, man maximiert das Potenzial, das in einer Gruppe steckt. Wenn wir mehr auf Diversität und Inklusion achten, können wir also enorm profitieren und sowohl die Kultur im Institut als auch unsere wissenschaftliche Arbeit stärken.

Was haben Sie bislang erreicht?

Untersuchungen belegen, dass eine lange Liste von Anforderungen in Stellenausschreibungen dazu führt, dass die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass sich Frauen bewerben. Wir haben der Institutsleitung vorgeschlagen, Jobangebote am IGB künftig anders auszuschreiben und die Liste der Anforderungen auf ein angemessenes Maß zu reduzieren. Das ist bereits umgesetzt worden. Außerdem haben wir ein Kolloquium organisiert, bei dem es um unbewusste Vorurteile geht und darum, wie man damit umgehen kann. Denn auch wenn man gute Absichten hat, wird man häufig von Einstellungen gesteuert, die das eigene Urteil beeinflussen, etwa in Bewerbungsverfahren. Das gilt übrigens auch für die wissenschaftliche Arbeit, wie ich vor längerer Zeit bei einer Lehrveranstaltung für 200 Studierende feststellen konnte...

Bitte erzählen Sie mehr darüber.

Wir hatten ein Experiment vorbereitet, bei dem es darum ging, die Reaktivität zweier unterschiedlicher Gruppen von Daphnien zu messen: die einen hatten Erfahrung mit Räubern gemacht, die anderen nicht. Die Studierenden sollten ermitteln, wie stark die Daphnien reagieren, wenn sie mit einer Nadel bedroht werden, die in die Petrischale eingetunkt wird, also messen, wie weit sie zurückweichen.

Und?

80 Prozent der Studierenden wiesen bei diesem Experiment nach, dass die Daphnien mit „Räuber-Erfahrung“ stärker reagieren. Der Punkt war bloß, dass es tatsächlich keine Unterschiede zwischen den zwei Gruppen gab, alle Daphnien waren unter gleichen Bedingungen aufgezogen worden. Ein klarer Fall von Observer Bias also, der mich damals schockierte: Ich spielte sogar kurz mit dem Gedanken, die Wissenschaft zu verlassen. Heute sehe ich dieses Experiment als überzeugendes Beispiel dafür, dass wir unsere Proben immer, wirklich immer blind untersuchen müssen. Und mehr Unvoreingenommenheit wäre auch in anderen Bereichen des wissenschaftlichen Lebens wichtig.

Das Gespräch führte Wiebke Peters.

Lesen Sie mehr über die Studienergebnisse des Projekts Paradapt >

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Evolutionsökologie von Krankheiten

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