Weltweit nimmt die Biodiversität in einem noch nie dagewesenen Tempo ab. Besonders gefährdet sind die genetische Vielfalt, Populationen, Arten, Gemeinschaften und Ökosysteme im Süßwasser. Studien und Zahlen belegen dies eindrücklich. In Binnengewässern schrumpfen die Lebensräume besonders dramatisch, etwa weil in den Tiefen vieler Seen zunehmend Sauerstoffmangel herrscht, die Temperaturen des Oberflächenwassers steigen, oder weil Fließgewässer verbaut werden und periodisch austrocknen. Der Klimawandel mit zunehmenden Wetterextremen wie Dürren und Überflutungen verschärft die Situation zusätzlich.
Binnengewässer gleichrangig berücksichtigen
„Nach wie vor wird in der internationalen Biodiversitätspolitik die große Relevanz der Binnengewässer übersehen“, kritisiert IGB-Forscherin Prof. Dr. Sonja Jähnig und fährt fort: „Quellen, Bäche, Flüsse, Seen, Kleingewässer, Feuchtgebiete und das Grundwasser sind unabdingbare Voraussetzung und Lebensgrundlagen für die Natur und damit auch für uns Menschen. Deshalb sollten die Binnengewässer und ihre Biodiversität neben terrestrischen und marinen Ökosystemen als gleich bedeutsamer, dritter ökologischer Bereich in politischen und gesellschaftlichen Rahmenwerken und Strategien etabliert werden.“
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„Binnengewässer sollten als dritter ökologischer Bereich neben den terrestrischen und marinen Systemen stehen.“
Prof. Dr. Sonja Jähnig
Bislang werden Flüsse, Seen und Feuchtgebiete in unterschiedlichen politischen Rahmen entweder dem Land zugerechnet – weil sie im terrestrischen Bereich eingebettet sind – oder den Meeren und Ozeanen – weil sie aquatisch sind. „Süßwasser-Ökosysteme dürfen nicht länger nur ein Nebenschauplatz sein, denn sie können ihre vielfältigen Funktionen als Lebensraum und Schlüsselressource für Mensch und Natur nur erfüllen, wenn sie konsequent geschützt, nachhaltig bewirtschaftet und ökologisch wieder verbessert werden“, fasst Jähnig zusammen.
Dies gelte jetzt ausdrücklich auch für den neuen Globalen Biodiversitätsrahmen bis 2030, der in den kommenden Tagen verhandelt wird. Dessen Ziele müssten so angepasst werden, dass bei der Wiederherstellung der Ökosysteme und bei der Ausweitung von Schutzgebieten spezifische Ziele für Binnengewässer festgehalten werden. Dies empfiehlt Sonja Jähnig auch gemeinsam mit 20 weiteren international renommierten Süßwasserexpert*innen in einem gestern veröffentlichten Science Brief des Netzwerks GEOBON und FWBON.
Kein Klimaschutz ohne Biodiversitätsschutz
Auch bei Maßnahmen gegen den Klimawandel werden Binnengewässer zu oft vernachlässigt. Ihre Biodiversität ist von Klimaveränderungen besonders stark betroffen, beispielsweise weil sich Seen weltweit schneller erwärmen als die Atmosphäre und die Ozeane – oder sich das Abflussregime ganzer Flusssysteme verändert. Wird der Klimaschutz nicht mit anderen Naturschutzzielen in Einklang gebracht, kann die biologische Vielfalt zusätzlich in Gefahr geraten, wie IGB-Experte Dr. Martin Pusch erläutert: „Die Biodiversitätskrise in unseren Binnengewässern ist eng mit der Klimakrise verbunden, denn saisonale Dürrephasen mit niedrigen Durchflussmengen, gestiegene Schadstoffkonzentrationen und höheren Wassertemperaturen bedrohen das Leben unter der Wasseroberfläche in besonderem Maße“, sagt er.
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„Die Erhaltung der aquatischen Biodiversität muss Vorrang haben. Wir brauchen mehr freifließende Flüsse und großräumige Renaturierungen statt ineffiziente Wasserkraftprojekte.“
Dr. Martin Pusch
„Gerade der als Anpassung an den Klimawandel vorangetriebene Ausbau der Wasserkraft birgt große Risiken für die aquatische biologische Vielfalt: Millionen Dämme und andere Querbauwerke begünstigen die Massenentwicklung von Algen in Flüssen und verhindern, dass Fische in Hitzeperioden kühle Refugien aufsuchen können. Dabei tragen Wasserkraftwerke weniger zur Mitigation des Klimawandels bei als erwartet, denn Stauseen emittieren vor allem in den Tropen und Subtropen selbst hohe Mengen von Treibhausgasen.“ Pusch empfiehlt deshalb: „Die Erhaltung der aquatischen Biodiversität muss Vorrang haben. Wir brauchen dringend mehr freifließende Flüsse und großräumige Renaturierungen statt zusätzliche ineffiziente Wasserkraftprojekte mit ihren hohen ökologischen und sozialen Kosten.“
Auch die kleinsten Lebewesen schützen
Wenn schon große Seen und Flüsse aus dem Blick geraten, wie mag es dann wohl um die kleinsten Lebewesen stehen, die sie beherbergen? Millionen Arten winziger Mikroorganismen wie Pilze und Bakterien kommen in allen Gewässertypen vor – in kleinen Pfützen, großen Binnenseen, selbst in Eis und Schnee. Obwohl man die meisten von ihnen mit bloßem Auge nicht erkennt, machen sie in allen Ökosystemen den größten Teil der biologischen Vielfalt aus.
„Diese Mikroorganismen bilden die Basis eines jeden Nahrungsnetzes und tragen ganz wesentlich zu den Funktionen eines Ökosystems bei – nehmen wir z.B. die Pilze, die organisches Material remineralisieren und so Nährstoffe und andere Verbindungen im Produktionskreislauf halten. Gerade in größeren Gewässern sind sie ein wichtiger Faktor der sogenannten Kohlenstoffpumpe, da sie das Absinken von organischem Material bis in die Gewässertiefe und somit auch das Klima nachhaltig beeinflussen. Darüber hinaus helfen sie beim Abbau von Schadstoffen“, erläutert IGB-Mikrobiologe Prof. Dr. Hans-Peter Grossart.
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„Derzeitige Umweltveränderungen können zum Verlust von Schlüsselarten und damit von Ökosystemfunktionen führen. Es ist deshalb dringend nötig, auch Pilze in die Liste der zu schützenden Organismen aufzunehmen.“
Prof. Dr. Hans-Peter Grossart
Obwohl Mikroben für das Funktionieren von Ökosystemen und unsere Gesundheit von so entscheidender Bedeutung sind, sei nur wenig darüber bekannt, ob wir infolge des globalen Wandels Schlüsselarten verlieren werden und wie sich das auf das Funktionieren und damit die Gesundheit unserer natürlichen Umwelt auswirken könnte. „Wir gehen davon aus, dass die derzeitigen Umweltveränderungen zum Verlust von Schlüsselarten und damit von Ökosystemfunktionen führen können“, betont der IGB-Forscher und fügt hinzu: „Es ist deshalb dringend nötig, auch Pilz-Schlüsselarten in die Liste der zu schützenden Organismen aufzunehmen.“ Leicht dürfte das allerdings nicht werden, denn Pilze stellen in Gewässern noch eine der am wenigsten erforschten Organismengruppen dar.
Natürliche Systeme – gibt es die noch?
„Eine wirklich unberührte Natur existiert eigentlich fast nirgends mehr auf der Welt“, so lautet die Antwort von Dr. Tina Heger, die am IGB in der Arbeitsgruppe für Ökologische Neuartigkeit forscht. „In Deutschland haben wir keine Urwälder, in Europa kaum Flüsse, die unreguliert fließen und der durch den Menschen verursachte Klimawandel betrifft und verändert alle ökologischen Systeme.“
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„Eine wirklich unberührte Natur existiert eigentlich fast nirgends mehr auf der Welt. Wir brauchen Ansätze, die uns begreifen lassen, dass alles, was wir als Natur betrachten, vom Menschen gemanagt wird und dass daraus eine besondere Verantwortung erwächst.“
Dr. Tina Heger
In einem aktuellen Interview plädiert die Biologin deshalb dafür, natürliche und vom Menschen beeinflusste Natur nicht als Gegensätze zu begreifen. Stattdessen könne es alle denkbaren Zustände zwischen diesen beiden Polen geben. „Ein Ökosystem, in das der Mensch eingreift, kann genauso biologisch vielfältig sein wie ein natürliches System, es kann mitunter sogar resilienter sein – das zeigen erfolgreiche Renaturierungen. Wir brauchen Begriffe, die helfen, solche Übergänge zwischen natürlichen und menschengemachten Zuständen in der Natur zu beschreiben“, sagt sie. Das sei am Ende auch eine ethische und philosophische Frage - und würde umso mehr die Verantwortung des Menschen für die uns umgebende Natur unterstreichen.
Die zitierten und weitere IGB-Forschende stehen für Rückfragen zur aquatischen Biodiversität gerne zur Verfügung.
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