Fokus
Angelina Tittmann

"Wir haben das große Bild der biologischen Vielfalt im Blick"

Ein Gespräch mit Sonja Jähnig
Prof. Dr. Sonja Jähnig ist seit dem 1. Januar 2022 Abteilungsleiterin am IGB. Die Themen der neu geschaffenen Abteilung mit dem Titel „Ökologie der Lebensgemeinschaften und Ökosysteme“ könnten relevanter kaum sein: Jähnig und ihre Kolleg*innen forschen zur aquatischen biologischen Vielfalt, zu den Leistungen, die Gewässerökosysteme für den Menschen erbringen, und zu den Auswirkungen des globalen Wandels. Im Interview erzählt die Professorin, was sie sich persönlich vorgenommen hat, was wirklich jede*r von uns über Flüsse und Seen wissen sollte und warum Gewässer häufig aus dem Blick geraten.

© David Ausserhofer/IGB

Frau Jähnig, seit Januar leiten Sie die neue Abteilung Ökologie der Lebensgemeinschaften und Ökosysteme am IGB. Was sind Ihre ersten Eindrücke?

Ich freue ich mich sehr, aber ich habe auch Respekt vor den neuen Aufgaben. Bisher habe ich vor allem wissenschaftlich gearbeitet. Das ist mir immer noch wichtig, aber ich gehe davon aus, dass dies jetzt weniger wird. Das gut auszubalancieren, sehe ich als Herausforderung. 

Was hat Sie in der Entscheidung bestärkt?

Mich hat die Aufgabe an sich interessiert und fasziniert. An der Ausrichtung des Instituts mitzuwirken oder die Möglichkeit, ein bestimmtes Thema voranzubringen, das reizt mich sehr. Dazu freue ich mich sehr auf den Austausch und die Zusammenarbeit mit den anderen Abteilungen.

Welches Thema haben Sie dabei besonders im Kopf?

Das sind vor allem zwei: Ich möchte das Datenmanagement weiter ausbauen. Daten sollten verfügbar, auffindbar und gut dokumentiert sein, sie sind ein wichtiger Anker für Kooperationen innerhalb und außerhalb des Instituts. Das IGB hat zwar schon sehr gute Strukturen aufgebaut, um Daten derart verfügbar zu machen – diese müssen aber noch stärker genutzt werden. Insgesamt brauchen wir ein echtes Umdenken in der Forschung: Daten sollten nicht als Eigentum begriffen werden, sondern als etwas, durch das ein Mehrwert entsteht, wenn es viele Leute nutzen können. Das ist natürlich auch mit Aufwand verbunden, der aber zukünftig als nötiger Arbeitsschritt verstanden werden muss. Das zweite Thema sind die Langzeitprogramme des IGB, denn diesen Datenschatz können wir stärker nutzen. Derzeit sind sie stark auf die Seen – also auf den Stechlin- und auf den Müggelsee – ausgerichtet. Das sollte natürlich unbedingt fortgesetzt werden. Starkes Potenzial sehe ich aber in der übergreifenden Auswertung der Datensätze. Und ich habe die Idee, zusätzlich ein repräsentatives Fließgewässer hinzuzunehmen, das die Besonderheiten des nordostdeutschen Tieflands berücksichtigt.

Was versprechen Sie sich davon?

Im Gegensatz zu anderen Regionen in Deutschland fehlt es hier an Langzeit-Messpunkten im LTER-Netzwerk in Fließgewässern, die beispielsweise die Entwicklung im dürre-sensitiven Nordosten von Deutschland verfolgen. Hier kann ich mir sehr gut eine Zusammenarbeit mit der IGB-Abteilung für Ökohydrologie und Biogeochemie vorstellen, die in dieser Region ja bereits sehr aktiv ist.

Auch die anderen Abteilungen beschäftigen sich mit Fragen der Biodiversität, der Ökosystemleistungen und des Umweltwandels. Welchen Platz nimmt Ihre neue Abteilung hier ein?

Wir haben das große Bild der biologischen Vielfalt in Binnengewässern im Blick, das macht unser Potenzial aus. Dazu arbeiten wir an ganz verschiedenen Organismengruppen: von den winzigen Algen, die man erst einmal nur als Farbe im Wasser wahrnimmt bis hin zu den ganz großen Tieren, sogenannte Süßwasser-Megafauna-Arten – mein persönlicher Forschungsschwerpunkt. Wir beschäftigen uns außerdem intensiv mit Fragen des Gewässermanagements und denken in unserer Forschung die Anwendung ganz explizit mit.

Leiten Sie aus der anwendungsorientierten Forschung auch einen besonderen Auftrag für die Politik- und Gesellschaftsberatung ab?

Beraten im Sinne von  informieren und Fakten darlegen: ja! Für mich bedeutet das aber auch, die Faszination für das Thema zu wecken und den Menschen einen überraschenden oder spannenden Aspekt mitzugeben, den sie vorher vielleicht noch nicht wussten oder nicht im Blick hatten. Für viele ist Wasser auch heute noch vor allem das, was aus dem Wasserhahn kommt.

Wenn es nach Ihnen ginge, was sollte denn wirklich jede und jeder über Gewässer wissen?

Alle sollten am besten im Frühling mal an einem halbwegs schönen Bach einen Stein umdrehen und sich von dem Gewimmel und Gekrabbel verzaubern lassen, das man darunter sieht; von diesen kleinen Tierchen, die so wichtig sind und von denen viele später als Insekten durch die Luft schweben. Diese intensive Verbindung von Wasser, Land und Luft ist viel zu wenigen Leuten bewusst.  

Stammt daher auch Ihre eigene Faszination?

Nicht direkt, die hat zwar auch etwas mit dem Aspekt der Verbindung zu tun, hängt aber stärker damit zusammen, dass Wasser fließt. Ich bin an der Brigach, einem Donauzufluss, aufgewachsen – wir haben dauernd dort gespielt. Wenn wir z.B. einen Damm gebaut haben, dann habe ich mir immer vorgestellt, dass es in der Donau kein Wasser mehr gibt. Das war natürlich nicht möglich, aber die Vorstellung, dass das, was ich in den Bach werfe anschließend durch ganz viele Orte und Länder schwimmt, das hat mich fasziniert.

Inzwischen haben Sie selbst zwei Töchter im Grundschulalter. Haben Sie den Eindruck, Gewässer sind schon in den Lehrplänen angekommen?

Nein, überhaupt nicht. Da geht es meistens um Meerestiere. Dass Flüsse ins Meer fließen und dass viele Tiere zwischen Meeren und Binnengewässern oder in den Gewässerläufen hin- und herwandern, das fehlt zum Beispiel komplett. Was für die Lehrpläne zutrifft, beobachten wir übrigens auch oft in der Umweltpolitik: Alle schauen auf die Meere und auf das Land; die Binnengewässer werden als eigenständige und wichtige Systeme zu selten berücksichtigt oder kommen in Regelwerken und Dokumenten nur ganz am Rande vor.

Bleiben wir doch bei der Umweltpolitik. Woran hakt es häufig beim Schutz von Gewässern und ihrer Biodiversität?

Es gibt genug Wissen, um eine Verbesserung zu erreichen – es müsste nur konsequent umgesetzt werden. Natürlich gibt es auch noch Wissenslücken, etwa wo genau bestimmte Tiere oder Pflanzen vorkommen, wie häufig sie sind und wie sich ihre Populationen über die Zeit entwickeln. Das ist sogar bei den ganz großen Tieren noch so. Und je kleiner die Tiere werden, desto schwieriger wird es und um so weniger weiß man. Frühzeitig zu erkennen, dass etwas im System nicht stimmt, ist oft kaum möglich.

Sie weisen seit Jahren auf die stille Krise der Biodiversität in Binnengewässern hin. Wie bewerten Sie den aktuellen Diskurs zum Thema? 

Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Erst im Spätsommer 2021 stand das Thema groß auf der Agenda des Kongresses der Weltnaturschutzunion, kurz IUCN. Dort gab es zahllose Sessions und Workshops zu Binnengewässern und ihrer Konnektivität. Nachher, in der Abschlusserklärung, dem sogenannten Marseille-Manifesto, fand sich die Verbindung zum Süßwasser dann aber nur am Rande. Das Thema ist wieder komplett rausgefallen.

Dabei ist eigentlich unstrittig, dass Wasser das kostbarste Gut ist...

...aber es wird hauptsächlich als Ressource wahrgenommen, als Trinkwasser, eventuell noch als Brauchwasser. Dass ganze Ökosysteme und Lebensräume davon abhängen und das umgekehrt auch die Nutzung der Ressource von der Qualität abhängt, ist noch nicht richtig verankert – es lässt sich manchmal allerdings auch schwer mit Zahlen belegen. Und natürlich gibt es gerade an Gewässern häufig Interessen- und Nutzungskonflikte. Das zu lösen, ist die große Herausforderung.

Seit 2020 sind Sie auch Professorin für Aquatische Ökogeographie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dort verbindet das Geographische Institut geografische mit sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Aspekten und das in ganz unterschiedlichen Systemen – von ländlichen Räumen bis in die Metropolen, von den Polkappen bis in unsere Gewässer. Wie profitiert die IGB-Forschung von dieser Einbindung?

Diese thematische Breite ist wirklich außergewöhnlich! Die Zusammenarbeit bietet Gelegenheit, die Einbettung der Gewässer in die Landschaft komplementär zu betrachten. Wir können etwa die gleichen Fragestellungen zu unterschiedlichen Systemen bearbeiten bzw. Forschungsprojekte gleich gemeinsam planen und durchführen. Dadurch erreichen wir ein besseres Verständnis von hydrologischen, biogeochemischen, ökologischen und sozioökonomischen Prozessen, wie Ökosysteme miteinander verbunden sind oder wie sie auf verschiedene Stressoren reagieren.

Das Geographische Institut ist zugleich auch eines der ältesten in ganz Deutschland. Zu seiner Gründung 1887 und viele Jahrzehnte später spielten Frauen in der Wissenschaft keine große Rolle. Heute haben Wissenschaftlerinnen eigene Forschungsgruppen, leiten Abteilungen und stehen Instituten vor. Sind Frauen in der Wissenschaft damit schon am Ziel?

Nein, überhaupt nicht – leider. Es gibt noch immer einen viel geringeren Anteil von Frauen in den höheren Karrierestufen – das beginnt bereits ab dem Postdoc-Level und verstärkt sich dann bei Gruppenleitungen oder noch höheren Ebenen.

Wie erklären Sie sich das? Ist das nur eine Frage der Zeit oder steckt dahinter ein strukturelles Problem?

Dahinter stecken oft hartnäckige strukturelle und sehr vielschichtige Probleme. Da spielen traditionelle Rollenbilder mit hinein, z.B. die Frage, wer mit wem mit umzieht, wenn sich eine Gelegenheit bietet und ein Jobwechsel ansteht; oder auch, ob Aufgaben zur Kinderbetreuung oder andere Pflegeaufgaben gleich verteilt werden können und durch Hilfsstrukturen unterstützt werden; oder bestimmte Verhaltensmuster im Alltag, die aber Auswirkungen auf unterrepräsentierte Gruppen insgesamt haben; und wegen des geringeren Frauenanteils gibt es weniger Vorbilder und Mentorinnen, die junge Wissenschaftlerinnen inspirieren und unterstützen könnten.

Hatten Sie ein solches Vorbild?

Als ich gerade mit meinem Studium begonnen hatte, erhielt Christiane Nüsslein-Volhard 1995 den Nobelpreis. Das hat mich damals tief beeindruckt. Seitdem habe ich viele interessante Persönlichkeiten getroffen und mir ein tolles Netzwerk aufgebaut. Einige davon haben mich sehr in der beruflichen Entwicklung unterstützt und sind inzwischen Vorbilder für mich.

Was hat Ihnen noch geholfen?

Als ich die Stelle in Berlin angeboten bekam, ist meine Familie mitgekommen; und wir hatten und haben sehr gute familiäre Unterstützung für die Kinderbetreuung, wenn es mal nötig ist. Als hilfreich hat sich für mich auch erwiesen, immer einen Plan B zu haben. Das hat mir das Gefühl gegeben: wenn etwas nicht klappt, dann finde ich mit meinem Plan B trotzdem ein gutes Auskommen. So habe ich Dinge einfach ausprobiert, die dann gut funktioniert haben und bin so Stück für Stück weitergekommen.

Verraten Sie uns diesen Plan B?

Nach dem Studium war ich über den DAAD zwei Jahre in China. Hätte es mit meiner wissenschaftlichen Laufbahn nicht geklappt, dann hätte ich mir auch gut vorstellen können, z.B. in der Wirtschaft an der Schnittstelle zwischen China und Deutschland zu arbeiten. Aber ich bin sehr froh, dass ich dann doch Wissenschaftlerin geworden bin! Immer wieder Neues herausfinden und Zusammenhänge analysieren zu können, das macht diese Arbeit für mich so reizvoll. Hinzu kommt ein großes Maß an Flexibilität, Unabhängigkeit und Austausch nah und fern – das gibt es in dieser Form wohl nirgendwo sonst.

 

Herzlichen Glückwunsch zur neuen Aufgabe, Sonja! Wir freuen uns auf eine aktive Abteilung, die relevante Themen wie Datenmanagement und Langzeitforschung vorantreibt und gleichzeitig Faszination für das Leben am und im Wasser weckt!

 

Zur Person:

Sonja Jähnig studierte Umweltwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen und für ein Jahr an der University of Newcastle in Australien. Bevor sie sich für die Wissenschaft entschied, ging sie zunächst mit einem Stipendium des DAAD für zwei Jahre nach Beijing, wo sie zunächst ein Jahr Chinesisch lernte und dann ein deutsch-chinesisches Projekt zur nachhaltigen Wasserversorgung Pekings koordinierte. Sie erhielt ein Promotionsstipendium der Stiftung der deutschen Wirtschaft (SDW) und promovierte, zurück in Deutschland, zu Fließgewässerrenaturierungen. Als Postdoc forschte sie für ein Jahr am Institut für Hydrobiologie der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Wuhan und dann in Deutschland bei der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung zur Fließgewässerökologie und Modellierung. 2010 leitete sie dort ihre erste Nachwuchsgruppe am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum (BiK-F) und kam 2014 als Arbeitsgruppenleiterin an das IGB.

Ansprechpersonen

Sonja Jähnig

Abteilungsleiter*in
Forschungsgruppe
Aquatische Ökogeographie

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