Pressemitteilung
Nadja Neumann

Die versteckten Kosten der Wasserkraft: Gefährdung der Biodiversität

Zwei kürzlich in den Fachzeitschriften Biological Conservation und Nature Reviews Earth & Environment veröffentlichte Übersichsstudien unter Federführung  des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und des Northeast Institute of Geography and Agroecology der Chinesischen Akademie der Wissenschaften zeigen die tiefgreifenden Auswirkungen der Wasserkraft auf die biologische Vielfalt in Fließgewässern und an der Land-Wasser-Grenze: der Aufstau flussaufwärts der Dämme, die Unterbrechung der natürlichen Strömung, des Sedimenttransports und der Temperaturverhältnisse im Unterlauf und in den Überschwemmungsgebieten, sowie die Veränderung der Lebensräume und Umweltfaktoren, die als Signalgeber für viele Arten zur Vollendung ihres Lebenszyklus unerlässlich sind. Die Autorinnen und Autoren geben einen Überblick über Maßnahmen zur Minderung dieser negativen Auswirkungen. Sie plädieren dafür, den Stellenwert der Wasserkraft als umweltfreundliche Energiequelle zu hinterfragen.

Beispielfoto: Viele Fische scheitern an Wasserkraftanlagen, etwa jeder fünfte stirbt bei der Passage der Turbinen. | Foto: shutterstock 2525484043 © elshootsphotography 

Weltweit werden Flüsse immer weiter fragmentiert und aufgestaut, statt frei zu fließen. Einer der Hauptgründe ist die Energiegewinnung durch Wasserkraft. Mehr als 2.800 Stauseen mit einer Fläche von über 10 Quadratkilometern sind bekannt, oft sind sie mit großen Wasserkraftwerken verbunden. Kleine Wasserkraftanlagen bilden häufig keine großen Stauseen und ihre Anzahl bleibt daher weitgehend unberücksichtigt. Weltweit sind schätzungsweise mehr als 80.000 Kleinwasserkraftwerke in Betrieb oder im Bau – Tendenz steigend. Viele der Wasserkraftanlagen befinden sich in Hotspots der Süßwasserbiodiversität, darunter die Flusseinzugsgebiete des Amazonas, des Kongo, des Ganges und des Mekong.

„Wir beobachten sehr unterschiedliche Typen von Wasserkraftanlagen und regional unterschiedliche Entwicklungen“, sagt Prof. Sonja Jähnig, Abteilungsleiterin am IGB und Letztautorin der in Nature Reviews Earth & Environment veröffentlichten Studie. „In Deutschland, in der Alpenregion und in Europa insgesamt dominieren kleine Wasserkraftwerke. Viele von ihnen tragen nur wenig zur Energieerzeugung bei, haben aber erhebliche Auswirkungen auf die Flussökosysteme. Flüsse in Asien und Südamerika, die besonders artenreich sind und viele wandernde Arten beherbergen, sind zunehmend durch große Wasserkraftprojekte bedroht.“

Laut der Roten Liste gefährdeter Arten der Weltnaturschutzunion (IUCN) stellen Staudämme eine Bedrohung für fast 4.000 aquatische, semiaquatische und terrestrische Arten dar. Diese breite Gefährdung ergibt sich aus einer Vielzahl negativer Auswirkungen, die mit dem Bau von Wasserkraftanlagen verbunden sind. Besonders gravierend ist der Verlust der Konnektivität.

Zerstückelte Lebensadern und unterbrochene Migrationsrouten aquatischer Arten

Die Flusskonnektivität umfasst mehrere Dimensionen: die drei räumlichen Dimensionen – longitudinale Konnektivität entlang des Flussverlaufes, laterale Verbindung zu den Auen sowie den vertikalen Austausch mit Grundwasser und Atmosphäre. Hinzu kommt die zeitliche Dimension, die sich auf natürliche Fließ-, Sediment- und Temperaturregimes bezieht.

„Wasserkraftwerke können alle vier Dimensionen dieser Konnektivität verändern und verschiedenste Auswirkungen auf die Biodiversität haben, etwa Lebensraumverlust durch Stauung, Beeinträchtigung von Migration, sowie erhöhte Verletzungs- und Sterberaten durch Turbinen oder sogenannte Schwall-Sunk-Effekte“, erklärt Prof. Fengzhi He vom Northeast Institute of Geography and Agroecology der Chinesischen Akademie der Wissenschaften, der beide Studien geleitet hat und Gastwissenschaftler am IGB ist.

Die Auswirkungen der Wasserkraft auf aquatische Arten, insbesondere Fische, sind gut dokumentiert. Besonders betroffen sind wandernde Fischarten. Weltweit sind ausgewählte Populationen wandernder Süßwasserfische zwischen 1970 und 2020 im Durchschnitt um 81 Prozent zurückgegangen – einer der Hauptgründe dafür ist die Flussverbauung. Dämme behindern nicht nur den Lebenszyklus dieser Tiere, sondern verursachen beim Passieren der Infrastruktur auch erhöhte Verletzungs- und Sterberaten. Eine IGB-Studie mit Daten von 122 Wasserkraftwerken ergab, dass etwa jeder fünfte Fisch beim Abstieg durch Turbinen stirbt oder schwer verletzt wird – bei mehreren Anlagen entlang eines Flusses steigt dieses Risiko. Zwar wurden an vielen Wasserkraftwerken Fischaufstiegsanlagen gebaut, ihre Wirksamkeit ist jedoch oft begrenzt. 

Störungen im Abfluss- und Temperaturregime 

Wasserkraftwerke verändern durch die Aufstauung und das unregelmäßige Ablassen von Wasser die Umweltbedingungen sowohl ober- als auch unterhalb eines Staudamms grundlegend. Häufig verschwinden in Stauseen strömungsliebende Arten, während sich „Generalisten“, darunter auch gebietsfremde Arten, in den gestauten Bereichen wohlfühlen. Unterhalb von Dämmen kommt es durch das unregelmäßige Ablassen von Wasser häufig zu schnellen Wasserstandsschwankungen, was zu Verletzungen und Todesfällen bei aquatischen Arten führen kann. Auch das Temperaturregime ändert sich: Wird Wasser aus tieferen Reservoirschichten abgelassen, kann es im Sommer zu Abkühlung und im Winter zu Erwärmung des unterhalb gelegenen Flussabschnitts kommen – die natürliche saisonale Temperaturvariation wird reduziert. Solche Veränderungen führen zu einem zeitlichen Auseinanderfallen von Lebenszyklen und Umweltbedingungen. Im Jangtse hat sich beispielsweise die Laichzeit von vier bedeutenden Karpfenarten durch den Drei-Schluchten-Damm sowohl verzögert als auch verkürzt, was zu einem Rückgang der jährlichen Jungfische um fast 90 Prozent führte.

Mehr Forschung und Monitoring nötig zu Auswirkungen auf semiaquatische Tiere

„Im Vergleich zu aquatischen Arten wurde den Auswirkungen der Wasserkraft auf semiaquatische Tiere wie Krokodile, Schildkröten und Otter bisher deutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Der Mangel an wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema bedeutet jedoch nicht, dass diese Tiere unbeeinflusst bleiben“, sagt IGB-Forscher Vassil Altanov, Erstautor der in Biological Conservation veröffentlichten Studie. „Wir haben große semiaquatische Arten mit einem Maximalgewicht von 30 kg als Beispiel herangezogen, um diese Auswirkungen zu verdeutlichen.“

Die Entstehung von Stauseen kann zu größeren Wasserflächen und längeren Uferlinien führen. Diese neuen Flächen sind jedoch nicht zwangsläufig geeignete Lebensräume für semiaquatische Arten. So vervielfachte sich am Balbina-Damm in Brasilien die Wasseroberfläche um das 63-Fache, doch die Population des Riesenotters (Pteronura brasiliensis) verdoppelte sich lediglich – aufgrund von Nahrungsmangel und dem Verlust geeigneter Aufzuchttplätze. Brutplätze von Krokodilen und Schildkröten können durch die Stauung oberhalb oder durch erhöhten Wasserstand unterhalb des Damms überschwemmt werden, was ihre Fortpflanzung beeinträchtigt. Zudem führen Sedimentrückhalt und unnatürliche Wasserstandsschwankungen zu Eintiefungen im Flussbett, wodurch wichtige Lebensräume wie Sandbänke zunehmend verschwinden.

Auch semiaquatische Säugetiere reagieren empfindlich auf veränderte Umweltbedingungen durch Wasserkraft. So wurde beispielsweise das Abflussregime unterhalb des Kafue-Gorge-Wasserkraftwerks in Sambia verändert und dadurch das Pflanzenwachstum in den Auen beeinflusst. Dadurch verringerte sich das Nahrungsangebot für den Kafue-Lechwe (Kobus leche ssp. kafuensis), eine afrikanische Antilopenart, während seiner Paarungs- und Kalbungszeit – mit der Folge, dass die Tiere ihre Fortpflanzungsperioden verschieben mussten, um zu überleben.

Negative Effekte summieren und verstärken sich

Wenn mehrere Wasserkraftwerke entlang eines Flusses betrieben werden, summieren sich ihre negativen Umweltauswirkungen. „Das ist besorgniserregend, da weltweit über 3.000 Wasserkraftwerke mit einer Leistung über einem Megawatt geplant oder im Bau sind – zusätzlich zu mehr als 4.600 potenziell wirtschaftlich nutzbaren Standorten, von denen viele in Schutzgebieten liegen. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wasserkraftanlagen sind immer mit negativen Auswirkungen auf Fließgewässer verbunden. Wo sie bereits bestehen, müssen ihre negativen Effekte besser abgemildert werden“, erklärt Prof. Sonja Jähnig.

Die Autor*innen nennen verschiedene Maßnahmen zur Minderung dieser Auswirkungen, etwa die Einhaltung von Mindestabflüssen, um das natürliche Flussregime funktional zu simulieren, oder die Gestaltung effektiver Passagen zur Förderung der Wanderung von Arten stromauf- und -abwärts. Sie schlagen zudem das STREAM-Konzept vor, um Energiegewinnung mit dem Erhalt der Biodiversität besser in Einklang zu bringen. STREAM steht für: Systematische Planung von Infrastruktur für erneuerbare Energien; Tracking (Überwachung) der Auswirkungen durch Langzeitmonitoring und Forschung; Responsives, adaptives Management; Eliminierung von Infrastruktur, wo notwendig; Abschätzung sozio-ökologischer Zielkonflikte; Mehrakteurige Entscheidungsfindung. 

Für Deutschland ist im Oktober 2024 die neue Erneuerbare-Energien-Statistik der entsprechenden Arbeitsgruppe (AGEE-Stat) des Umweltbundesamtes erschienen. Sie zeigt, dass die jährliche Einspeisung je nach Witterung seit vielen Jahren relativ konstant bei bis zu 22 Terrawattstunden (TWh) liegt. Das Ausbaupotenzial der Wasserkraft ist weitgehend ausgeschöpft, so dass sich die installierte Leistung seit einigen Jahren nur wenig verändert.

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