Fokus
Nadja Neumann

„Der Begriff des Anthropozän bringt uns im Umweltschutz nicht weiter“

Interview mit Tina Heger
Die IGB-Wissenschaftlerin Tina Heger hat kürzlich eine Honorarprofessur an der Leuphana Universität Lüneburg sowie eine Außerplanmäßige Professur an der Technischen Universität München erhalten. Die Ökologin erarbeitet Konzepte, wie Wissen gebündelt und Forschungsergebnisse besser zugänglich gemacht werden können. Außerdem entwickelt sie auf wissenschaftlicher Basis Visionen, wie die Beziehung von Menschen zu Natur verbessert werden kann. Dabei arbeitet sie gerne interdisziplinär, beispielsweise mit Philosoph*innen zusammen. Sie hat also einen sehr weiten Blick auf das Thema Ökologie. Dazu haben wir ihr ein paar Fragen gestellt.
Verleihung der Honorarprofessur an Tina Heger

Tina Heger hat im April 2025 ihre Honorarprofessur an der Leuphana Universität Lüneburg angetreten. | Foto: 
Jennifer Fandrich

Frau Heger, Sie erforschen wirklich ganz unterschiedliche Facetten der Ökologie. Als gemeinsame Klammer würde ich sagen: Sie erforschen vor allem Beziehungen – zwischen gebietsfremden und heimischen Arten, zwischen Mensch und Natur sowie zwischen Wissensschaffenden und Rezipienten. Und sogar die Beziehung der Forschenden zu ihrer Forschung. Trifft das in etwa zu?

Ja, tatsächlich trifft diese Beschreibung recht gut zu. Mich interessieren zwar auch die ökologischen Zusammenhänge, aber vor allem auf der Ebene der Interaktion. Dabei interessieren mich nicht nur Aktion und Reaktion, sondern Beziehungen in all ihrer Komplexität. Das betrifft sowohl die Beschreibung von Beziehungen als auch die Entwicklung von theoretischen Methoden, um diese Komplexität besser sichtbar zu machen. Das klingt jetzt vielleicht abstrakt. Ein Beispiel: Wenn sich eine gebietsfremde Art einen neuen Lebensraum erobert, hat das selbstverständlich Auswirkungen auf die heimische Fauna – und umgekehrt. Diese Wechselwirkungen zu untersuchen, ist klassische Ökologie. Ich erforsche aber auch den theoretischen Überbau, beispielsweise die Frage, wie sich die verschiedenen Theorien zur Invasionsbiologie miteinander verbinden lassen, um das Wissen über invasive Arten zu verbessern, das ist der Hypothesenhierarchie-Ansatz.

Welchen Zweck hat der Hypothesenhierarchie-Ansatz?

Dazu möchte ich etwas zum Hintergrund erläutern. Denn tatsächlich ist eine der großen Herausforderungen der Wissenschaft in meinen Augen, dass die Menge an wissenschaftlicher Evidenz stetig wächst. Grundsätzlich sollte es dadurch möglich sein, komplexe ökologische Systeme viel detaillierter als je zuvor zu beschreiben und zu erklären. Eine Zunahme der verfügbaren Informationen bedeutet jedoch nicht automatisch einen Zuwachs an Wissen und Verständnis. Die Veröffentlichung von Ergebnissen in wissenschaftlichen Zeitschriften und die Hinterlegung von Daten in öffentlichen Archiven garantieren nicht deren praktische Anwendung, Wiederverwendung oder die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Theorie. Zusammen mit dem IGB-Wissenschaftler Jonathan Jeschke habe ich den „Hierarchy of Hypothesis“-Ansatz entwickelt. Damit wollen wir die Situation verbessern, indem wir Evidenz und Theorie miteinander verknüpfen. Ein wichtiger Schritt zur effizienteren Nutzung von Ergebnissen aus Fallstudien ist die Synthese. Es gibt eine Fülle von Methoden, um die Ergebnisse mehrerer Studien statistisch zu kombinieren. Diese Methoden ermöglichen die Synthese von Forschungsergebnissen aus verschiedenen Studien, die eine gemeinsame Fragestellung behandeln.

Eine Art Wissensinkubator also. Außerdem entwickeln Sie neue Methoden, um Wissen besser zugänglich zu machen. Können Sie das noch etwas erläutern?

Gerne, fangen wir doch mit der „Zielgruppe“, den Forschenden in der Invasionsbiologie, an. In dem Hi-Knowledge-Ansatz haben wir uns das Prinzip der Landkarte zunutze gemacht, um in einer webbasierten Anwendung heterogene Daten und Informationen zur Invasionsbiologie zusammenzuführen. So kann Wissen schnell und einfach gefunden werden. In der Invasionsbiologie ist es besonders wichtig, Erkenntnisse möglichst schnell und einfach verfügbar zu machen, da das Management invasiver Arten davon abhängt. Denn bei der Ausbreitung von Arten ist ein präventives oder zumindest frühes Management entscheidend für den Erfolg. Ein zweites Thema ist der Verlust der Biodiversität. Wie können wir diesen aufhalten?

Was sind Ihrer Ansicht nach die größten Herausforderungen, um den Verlust der Artenvielfalt zu reduzieren?

Die Renaturierung von Ökosystemen ist dabei natürlich ein wichtiger Faktor. Auch hierzu möchte ich einen Beitrag leisten und die verfügbaren Informationen besser zugänglich machen. Beispielsweise darüber, was bei Renaturierungsmaßnahmen funktioniert hat und was nicht. In meiner zukünftigen Arbeit wird es also auch darum gehen, wie wir von Erkenntnissen der Ökologie zu einer besseren Renaturierungspraxis gelangen können – ich schreibe gerade an entsprechenden Anträgen. Das funktioniert nur in diversen Teams aus Praktiker*innen, Forschenden und Personen mit lokalem Wissen, und wir arbeiten gerade intensiv an entsprechenden Forschungsanträgen.

Sie arbeiten gerne über disziplinäre Grenzen hinweg, beispielsweise mit Philosoph*innen. Was macht diesen Austausch so besonders?

Für mich ist das eine sehr naheliegende Zusammenarbeit. Viele Ökolog*innen haben sicher mehr Berührungspunkte mit der Philosophie, als ihnen bewusst ist, beziehungsweise ist ihre Forschung stark von Wissenschaftstheorie geprägt. Es hat mir sehr geholfen, einmal zu betrachten, wie die aktuelle Philosophie auf die Wissenschaft blickt. In der Ökologie und allgemein in der Wissenschaft ist man sehr an die Theorie von Karl Popper gebunden. Seine Idee, dass echte Wissenschaft falsifizierbar sein müsse, ist bis heute ein Paradigma, und viele Ökolog*innen verfolgen dieses Ideal. Tatsächlich funktioniert es in der Ökologie aber nicht immer. Als Jonathan Jeschke und ich den „Hierarchy-of-Hypothesis Approach” entwickelt haben, wurde mir das wieder bewusst. In einem Workshop mit Philosoph*innen waren diese wiederum sehr überrascht, dass wir Ökolog*innen so starr an Popper kleben und nicht wahrnehmen, dass die Philosophie viel mehr zu bieten hat oder bei manchen Themen schon weiter ist. Diese „Vergiss Popper!“-Aussage von den Philosoph*innen war also ein Aha-Erlebnis für mich und Antrieb, mich mit anderen Aspekten der Philosophie und Wissenschaftstheorie zu beschäftigen. Darüber habe ich übrigens auch eine Publikation mit dem Titel „Beyond Popper“ geschrieben.

Was haben Sie sonst noch aus der Philosophie mitgenommen?

Ach, so vieles! Wir sollten unsere eingefahrenen Muster in Bezug auf unsere Denk- und Herangehensweise viel öfter kritisch hinterfragen. Nehmen wir beispielsweise das Thema Kausalität. Als Naturwissenschaftlerin hatte ich bisher die starre Vorstellung, dass man nur auf der Grundlage von Experimenten Aussagen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen machen kann.

In der Wissenschaftstheorie wird das Thema Kausalität momentan jedoch stark hinterfragt. Aktuelle philosophische Ansätze zeigen auf, dass es viele Formen von Ursache-Wirkungs-Beziehungen gibt, und dass eine offene, pluralistische Herangehensweise auch in wissenschaftlichen Zusammenhängen sehr produktiv sein kann. 

Sie haben ja beschrieben, dass Sie sich mit den großen ökologischen Krisen unserer Zeit beschäftigen. Nun habe ich jedoch eine ganz persönliche Frage: Wie optimistisch blicken Sie in die Zukunft?

Obwohl ich weiß, wie schlecht es um den Zustand der Ökosysteme und die Artenvielfalt steht, gibt mir die Forschung den Glauben, dass sich die Situation verbessern kann. Gerade als Ökologin finde ich es wichtig, eine Vision von einer besseren Welt zu haben. Mein Ziel ist eine naturpositive Zukunft, in der wir in Harmonie mit der Natur leben. Wir sollten also aus dem Anthropozän in das Symbiozän eintreten. Im Narrativ des Anthropozäns schwingt immer der Unterton mit, dass der Mensch die Natur beherrscht und es einen Graben zwischen Natur und Kultur gibt. Ich möchte dazu beitragen, dass dieses Narrativ aufgebrochen wird.

Denken Sie, der Begriff des Anthropozäns ist überholt?

Leider ist dieser Begriff noch nicht überholt. Um die belastete Beziehung zwischen Mensch und Umwelt zu verbessern, schadet er jedoch mehr, als er hilft. Ich behaupte, dass sich der Blickwinkel automatisch ändert, wenn man eine positive Zukunftsvision formuliert. Daher werde ich mich in Zukunft mit Fragen wie den folgenden beschäftigen: Mit welcher Natur wollen wir im Einklang leben? Welche Vision haben wir von den zukünftigen Interaktionen zwischen Mensch und Natur? Wie können wir auf dem Weg zu dieser Vision transformativ handeln? Auch hierbei gilt es, eingefahrene Denkmuster zu hinterfragen.

Nennen Sie uns ein Beispiel für ein Denkmuster, das Sie kritisch prüfen möchten?

Unser Blick auf invasive Arten und neue Ökosysteme beispielsweise. Sie sind eine Herausforderung für den Naturerhalt und die Renaturierung. Aber welchen Wert hat diese „neue" Natur für uns? Können wir möglicherweise auch von Veränderungen profitieren? Diese wichtigen Fragen werde ich übrigens auch im Bachelor-Programm behandeln, das ich in Zukunft an der Leuphana Universität mitgestalten werde. Ich freue mich schon sehr auf die Interaktion mit den Studierenden, die sicher auch wieder viele neue Impulse in meine Denkweisen und Forschungsideen bringen werden.

 

Liebe Frau Heger, wir danken Ihnen sehr für das Gespräch und wünschen Ihnen alles Gute für Ihre neuen Aufgaben.

Selected publications
Forschungsgruppe(n)