Pressemitteilung
Nadja Neumann

Komplettes Erbgut und Gift-Gene der Mikroalge der Oder-Katastrophe entschlüsselt

Im Sommer 2022 verendeten rund 1.000 Tonnen Fische, Muscheln und Schnecken in der Oder. Die Katastrophe war zwar vom Menschen verursacht, doch die unmittelbare Todesursache war das Gift einer Mikroalge mit dem wissenschaftlichen Sammelnamen Prymnesium parvum, oft auch ‚Goldalge‘ genannt. Seitdem haben sich diese Einzeller dauerhaft in der Oder angesiedelt. Um künftig Risikofaktoren zu identifizieren, unter denen sich die Alge vermehrt und ihr Gift bildet, haben Forscherinnen und Forscher unter Leitung des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) jetzt das Erbgut der Mikroalge sequenziert. Dabei konnten sie die Gensequenzen ausmachen, die für die Giftbildung verantwortlich sind. Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem Frühwarnsystem. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Current Biology veröffentlicht.

Ein Schwarm von Prymnesien (aus einer Zellkultur des IGB) befällt eine zugegebene Kieselalge. Die Mikroalgen lysieren diese, um den aufgelösten Zellinhalt aufzunehmen. | Foto: Katrin Preuß/IGB

Prymnesium parvum s.l. (sensu lato), umgangssprachlich Goldalge genannt, steht für eine ganze Gruppe von Mikroalgen, die mit einer Größe von 5 bis 10 Mikrometern zwar winzig sind, aber verheerende Schäden anrichten können. Denn diese Algen können Zellgifte bilden, so genannte Prymnesine. Diese zerstören die Kiemen von Fischen und Filtrierern wie Muscheln und Schnecken im Wasser und greifen auch andere Körpergewebe an. Die Folge: Tod durch Sauerstoffmangel oder Kreislaufversagen. 

Mikroalge ist nicht gleich Mikroalge

Bisherige Untersuchungen zur Morphologie, Abstammung und Genetik haben gezeigt, dass Prymnesium parvum s.l. eine große Diversität aufweist: Mindestens 40 genetisch unterscheidbare Stämme mit unterschiedlichem Erbmaterial sind bekannt. Je nach Toxinproduktion werden drei Typen unterschieden: A, B und C. Bisher gab es nur ein Referenzgenom – eine vollständige „Abschrift“ des gesamten Erbguts – für den Typ A.

Nahe Verwandtschaft der Mikroalge ODER1 mit Brackwasserstämmen aus Dänemark und Norwegen

Ein internationales Team um die IGB-Forscher Dr. Heiner Kuhl, Dr. Jürgen Strassert, Prof. Dr. Michael Monaghan und PD Dr. Matthias Stöck hat nun im Rahmen des vom Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesumweltministeriums geförderten Projekts ODER~SO das gesamte Erbgut (Genom) des Algenstammes aus der Oderkatastrophe sequenziert. Dabei identifizierten sie auch Gensequenzen, die für die chemische Struktur der Toxine und damit für deren Eigenschaften verantwortlich sind. Der sequenzierte Stamm erhielt die Bezeichnung ‚ODER1‘ und wurde dem Typ B zugeordnet. 

Die Forschenden erstellten zudem einen genetischen Stammbaum verschiedener Prymnesium parvum-Stämme. Dieser zeigt, dass der  ODER1-Stamm am engsten mit einem Typ B-Stamm, K-0081, der bereits 1985 aus Brackwasser im Nordwesten Dänemarks isoliert wurde, sowie mit weiteren Typ B-Stämmen aus Norwegen (RCC3426, KAC-39 und K-0374) verwandt ist. Diese Ähnlichkeit ist auf die geographische Nähe zurückzuführen, gibt aber keinen direkten Aufschluss darüber, wie die Alge in die Oder gelangte.

Referenzgenom für Überwachung von Algenblüten

Nach der Entschlüsselung eines Typ-A-Referenzgenoms und nun des Typ-B-Referenzgenoms sind damit zwei sehr unterschiedliche Mikroalgen der Gruppe abgedeckt, die Entschlüsselung des Typ-C-Referenzgenoms steht noch aus. „Die Entschlüsselung des zweiten Referenzgenoms von Prymnesium parvum s.l. ermöglicht wichtige Einblicke in die genetische Basis und die strukturelle Variabilität der Toxine der verschiedenen Prymnesium-Typen. Kürzlich wurde gezeigt, dass der Gift-Typ die Toxizität beeinflusst. Nun können wir also die potenzielle Giftigkeit zukünftiger Algenblüten besser abschätzen“, sagt IGB-Forscher Dr. Jürgen Strassert, Koautor der Studie. 

Nächster Forschungsschritt: Molekulare Methoden zur Toxinanalyse entwickeln und Einflussfaktoren untersuchen

Derzeit kann die Toxinbildung nicht direkt überwacht werden. Das Toxin verdünnt sich im Wasser zu stark, außerdem gibt es bisher keine Standardmethoden, auch nicht für Typ A. „Einer der nächsten Forschungsschritte des IGB-Teams wird nun sein, über den Nachweis der Expression bestimmter Toxinsynthese-Gene eine Giftbildung auf molekularer Ebene analysieren zu können“, ergänzt IGB-Forscher Dr. Heiner Kuhl, Erstautor der Studie. 

Die Umweltbedingungen spielen sowohl für die Vermehrung der Algen als auch für die Bildung von Toxinen und damit für das Auftreten von toxischen Algenblüten eine wichtige Rolle. „Die Entschlüsselung der Gene für die Toxinbildung ist daher entscheidend, um nun die Umweltbedingungen zu analysieren, unter denen die Algen zu diesen Blüten neigen und möglicherweise spezifische Toxine in unterschiedlichen Mengen produzieren“, sagt IGB-Forscher Matthias Stöck, der die Studie geleitet hat. 

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